„Hoşgeldiniz!“ – so heißen die Türken Freunde willkommen. Und das fühlt sich Sarah wirklich – willkommen. Vor einem halben Jahr ist sie mit ihrer Familie von Deutschland nach Istanbul gezogen. Für ihren Mann, ihre zwei Töchter und für sie selbst war dies ein großer Schritt, der sie zwar vorab viel Schweiß und Arbeit gekostet, sich aber im Nachhinein gelohnt hat. Sie gewannen nämlich mehr als nur eine neue Sprache, einen neuen Job und ein neues Land – nämlich neue Freunde und eine neue Kultur. In einem Interview mit Familista berichtet sie über ihre Sorgen und Ängste vor dem Umzug und über ihre ersten Erfahrungen in einem neuen Land.

Sarah im Portait

Sarah berichtet im Interview mit Familista über ihre Erfahrungen als Auswandererfamilie in Istanbul

Eine Veränderung steht bevor

Wie hast du deinen Töchtern von euren Auswanderungsplänen erzählt?

Als wir im Sommer 2013 von der beruflichen Option meines Mannes in Istanbul erfuhren, haben wir entschieden, erst einmal eine Woche mit den Kindern hinzufliegen und uns die Stadt genauer anzusehen, um zu entscheiden, ob wir uns ein Leben dort überhaupt vorstellen könnten. Die Kleine war damals noch nicht einmal zwei, also noch zu jung um den Hintergrund des Urlaubs zu begreifen. Bei der Großen (acht) haben wir aber von Anfang an mit offenen Karten gespielt. Ich finde das sehr wichtig, da die meisten Kinder eine hohe Sensibilität für Stimmungen aufweisen und ganz genau spüren, wenn es ein „Geheimnis“ gibt oder die Eltern über Wochen hinweg Dinge nur hinter verschlossenen Türen besprechen. Wir haben ihr also in einer ruhigen Minute gemeinsam von der Möglichkeit erzählt und ihr versprochen, uns die Gegebenheiten gemeinsam anzusehen und dann eine Entscheidung im Sinne der gesamten Familie zu treffen.

Wie hat sie es aufgenommen?

Meine große Tochter hat sich natürlich mit ihren 8 Jahren viele Gedanken gemacht. Im Großen und Ganzen hat sie es aber sehr positiv aufgenommen, der Urlaub in Istanbul hat auch ihr gut gefallen und wir alle waren von Anfang an tief beeindruckt von dieser Millionenmetropole mit all ihren Möglichkeiten und vor allem von den offenen, gastfreundlichen und hilfsbereiten Menschen, auf die wir von Anfang an getroffen sind. Als meine Große das Meer sah und wir uns mögliche Wohngegenden inklusive der Swimmingpools ansahen, war es um sie geschehen, und sie war regelrecht euphorisch, als wir noch kritisch abwägten.

Sarahs Kinder

„Wer Kinder hat, hört ständig „Maşhallah“. Dieser Ausdruck ist mehr Gefühl als nur ein Begriff. Er drückt Bewunderung aus und den Wunsch nach Gottes Schutz über dieses entzückende Wesen.“

Es wird konkret

Habt ihr vorab eure Umzugspläne mit euren Kindern besprochen?

Mein Mann trat im Februar 2014 seine neue Stelle an, unser Umzug als Familie war auf den ersten Mai angesetzt. Während der Zeit, in der mein Mann vor Ort war, traf er also eine Vorauswahl an interessanten Wohnungen. Via Smartphone fieberten die Große und ich zu Hause mit, sahen uns Fotos und Videos der Objekte an und sprachen über Vor- und Nachteile. Natürlich haben wir nicht jedes Detail und jede Hürde, die ein so großer Umzug mit sich bringt, mit ihr durchgekaut. Viele Sorgen und Unklarheiten wollten wir auch von ihr fernhalten. Aber in die wichtigsten Entscheidungen wie Wohnungs- und Schulauswahl haben wir sie mit einbezogen und sie regelmäßig über den Stand der Dinge auf dem Laufenden gehalten. Und als es ans Aussortieren unserer Einrichtung ging und altes Spielzeug verkauft und verschenkt wurde, wurde dieser große Schritt auch für unsere Tochter immer greifbarer.

 

Hatte sie auch ein Mitspracherecht?

Ehrlich gesagt, nein. Nicht, was die Entscheidung des Auswanderns an sich anging. Unsere Entscheidung hatte auch existenzielle Hintergründe. Die Firma, für die mein Mann in Deutschland arbeitete, musste betriebsbedingt schließen. Es war klar, dass er in keiner zumutbaren Entfernung eine neue Stelle finden würde, die seinen Qualifikationen gerecht wurde. Ein größerer Umzug war also unausweichlich, die Option, das bisherige Leben unverändert weiterzuführen, stand gar nicht zur Debatte. Wir hatten also die Wahl zwischen verschiedenen beruflichen Perspektiven für meinen Mann, und diese in Istanbul war objektiv betrachtet mit Abstand die Beste.

Somit haben wir uns zuerst einen Eindruck verschafft, auf welche Rahmenbedingungen wir als Familie dort stoßen würden. Nachdem mein Mann und ich diese für gut befunden hatten, haben wir gemeinsam entschieden.
Als Eltern liegt es in unserer Verantwortung, bis zu einem bestimmten Grad und Alter Entscheidungen für unsere Kinder mit zu treffen. Sie selbst besitzen nicht die Lebenserfahrung und den Weitblick, um alle Konsequenzen einer solchen Entscheidung realistisch in vollem Umfang einschätzen zu können. Natürlich nahmen und nehmen wir Ängste und Sorgen unserer Kinder ernst. Das bedeutet aber nicht, dass wir unsere Lebensentscheidungen nach ihnen ausrichten sollten. Vielmehr sehe ich es als unsere Aufgabe als Eltern, Kindern die Beweggründe für solche Entscheidungen offen und ehrlich zu erklären und ihnen dabei zu helfen, Ängste vor Neuem abzubauen. Unser Ziel ist es, unsere Kinder eines Tages als Menschen ins Leben zu entlassen, die neuen Erfahrungen gegenüber aufgeschlossen sind und Herausforderungen optimistisch antreten. Auf diesem Weg unterstützen wir sie, so gut es geht. Auch indem wir ihnen diese Lebenseinstellung aktiv vorleben.

Wohnanlage mit Pool

Die Wohnanlagen mit verschiedenen Pools und Parks haben nicht nur Sarahs Kinder sofort begeistert…

Ängste und Sorgen

Was waren deine größten Sorgen vor dem Umzug?

Meine größten Sorgen galten all den Punkten, die man nicht lernen und auf die man sich selbst und seine Kinder nicht vorbereiten kann. Das betraf also weniger das Organisatorische oder die Sprache, sondern vielmehr das Umfeld. Natürlich kann man als Eltern eine Schule wählen, bei der man ein gutes Bauchgefühl hat und die einen tollen Eindruck macht. Ob die späteren Klassenkameraden das Kind jedoch am ersten Schultag mit offenen Armen empfangen oder es ausgrenzen werden, darauf hat man keinen Einfluss mehr. Oder darauf, ob die Nachbarschaft neugierig und freundlich auf die deutschen Christen zugeht oder von diesen Menschen, die offensichtlich so anders sind, nichts wissen will. Natürlich habe ich mir auch Sorgen darüber gemacht, ob unsere Jüngste sich im neuen Kindergarten wohlfühlen würde. Als Erwachsener fühlt man sich schon hilflos, wenn man im Supermarkt Sprachprobleme hat. Nicht auszudenken also, was es für eine Zweijährige bedeutet, einen Teil des Tages in einer türkischen Einrichtung zu verbringen, in der alles ganz anders funktioniert als zu Hause und in der sie erst mal nichts versteht und ihre eigenen Bedürfnisse nicht verständlich formulieren kann. Ich hatte eine Riesenangst, die Kinder in unbequemen Situationen alleine zu lassen und sie emotionalem Stress auszusetzen.

Was waren die größten Sorgen deiner Kinder?

Der Kleinen haben wir im Vorfeld ja gar nichts gesagt, sie wurde einfach vor vollendete Tatsachen gestellt und hat diese von Anfang an akzeptiert und die Veränderungen positiv aufgenommen, ohne Ängste zu formulieren. Die Große hatte in der „heißen Phase“, also den letzten Tagen vor dem Umzug, großen Herzschmerz, als ihr bewusst wurde, dass sie ihre Freunde und Klassenkameraden, Lehrer und vor allem einige Familienmitglieder nun zurücklassen würde. Direkt nach dem Umzug hatte sie noch einige Wochen Zeit, sich auf die neue Situation einzustellen, bevor sie mit der vierten Klasse der internationalen Schule startete. Die zwei Wochen vor Schulbeginn hatte sie Bauchschmerzen und große Ängste vor der neuen Schule. Dabei sorgte sie sich in erster Linie darum, ob die neuen Klassenkameraden und Lehrer nett sein würden und ob sie dem Unterricht folgen können würde, der dort komplett auf Englisch stattfindet. Sie hatte auch Angst, die anderen würden sie für dumm halten, wenn sie anfangs kaum ein Wort verstünde.

Wie hast du deine Töchter und dich auf das fremde Land, die Kultur und die Sprache vorbereitet?

Wir waren vor dem Umzug natürlich einige Male vor Ort und haben die Umgebung erkundet. Mit der Großen habe ich viel über die Türkei und Istanbul gesprochen, wir haben uns Videos angesehen und Bücher gelesen. Über die wichtigsten kulturellen Unterschiede war sie also im gleichen Maße aufgeklärt wie wir. Den Rest mussten wir alle vor Ort erfahren. Sprachlich haben mein Mann und ich uns mit einer Sprachsoftware mehr schlecht als recht vorbereitet. Es gab einfach über Wochen und Monate laufend so viele Dinge mit hoher Priorität abzuklären und zu organisieren, dass wir diesem Selbststudium viel weniger Zeit widmen konnten, als wir es gerne getan hätten.

Die Große lernte einige türkische Vokabeln durch Apps, ein selbstgebasteltes Memory und meine Aufkleber, die ich in Deutschland überall in der Wohnung angebracht hatte, um mir die türkischen Bezeichnungen sämtlicher Gegenstände des Alltags einzuprägen. Allerdings legte ich bei meiner Großen den Fokus auf Englisch, das erschien mir durch die neue Schule erstmal wichtiger für sie. Sie sollte ja die Möglichkeit haben, sich mit Lehrern und Mitschülern auszutauschen und den anderen folgen zu können. Die Kleine habe ich gar nicht aktiv vorbereitet. In diesem Alter lernen Kinder neue Sprachen ja noch intuitiv, einfach indem sie sie regelmäßig hören und sich den Sinn (wie bei der Muttersprache auch) aus dem Kontext erschließen. Da weder mein Mann noch ich türkische Kommunikation auf Muttersprachler-Niveau anbieten konnten, haben wir sie also vor unserem Gestammel geschont.

Markt in Istanbul

Auf dem Markt muss Sarah des öfteren ihr pantomimisches Geschick unter Beweis stellen, weil nicht alle Türken Englisch sprechen.

In Istanbul

Jetzt seid ihr bereits seit einem halben Jahr in Istanbul. Haben sich deine Sorgen bewahrheitet oder verflüchtigt?

Sowohl meine eigenen Sorgen, als auch die der restlichen Familienmitglieder haben sich glücklicherweise komplett in Wohlgefallen aufgelöst. Wir sind hier sehr freundlich und positiv empfangen worden und haben alle viele Kontakte geknüpft. Meine Kinder verbrachten lange Ferien und eine unbeschwerte Sommerzeit in unserer Wohnanlage mit ihren neuen Freunden, die sie vom ersten Tag an gefunden hatten. Glücklicherweise lässt es sich ja auch ohne viele Worte gut spielen, so haben sie gleich Anschluss gefunden und waren von Anfang an kaum aus dem Pool oder vom Spielplatz wegzukriegen.
Die Kleine geht sehr gerne in den türkischen Kindergarten, in dem es auch eine Deutschlehrerin gibt, die mit Rat und Tat zur Seite steht. Mittlerweile spielt sie gelegentlich schon mit ihren Puppen und Kuscheltieren auf Türkisch. Die Große blüht in der internationalen Schule regelrecht auf, es gefällt ihr dort viel besser als in Deutschland. Durch die Vielfalt an Schülern und Lehrern herrscht dort eine wahnsinnig tolle, offene Lernatmosphäre. Die Lehrer haben viel Erfahrung mit Auswanderer-Kindern und Sprachbarrieren und sind daher wahre Profis darin, diese abzubauen. Die Mitschüler kommen aus aller Welt und leben unterschiedlich lange in Istanbul. Dadurch kennen viele die Situation meiner Tochter und besitzen viel Einfühlungsvermögen. Jeder ist dort „anders“ und das macht sie doch alle wieder gleich. Für mich ist es auch beeindruckend, zu beobachten, wie meine Große von Tag zu Tag besser Englisch spricht. Sie braucht kaum mehr Hilfestellung bei den Hausaufgaben, Fragen versteht sie und sogar längere Texte schreibt sie mittlerweile selbst mit nur sehr wenigen Fehlern.

Uns allen ist es gelungen, uns innerhalb und außerhalb der Familie gut einzuleben und unsere Tage sehr erfüllt zu genießen. Unsere Lebensqualität hat sich erheblich verbessert.

 Seid ihr auf Schwierigkeiten gestoßen?

Gott sei Dank sind uns größere Schwierigkeiten erspart geblieben. Die einzige Hürde, mit der wir nach wie vor regelmäßig zu kämpfen haben, ist die Sprache. Hier in Istanbul sprechen nur sehr wenige Menschen Englisch. Selbst für Ärzte in Krankenhäusern oder andere Berufsgruppen, in denen wir in Deutschland solide Englischkenntnisse voraussetzen würden, ist hier eine Fremdsprache keine Selbstverständlichkeit. Wir müssen also noch viel mit Händen und Füßen nachhelfen, was uns die Türken aber glücklicherweise nachsehen. Sie reagieren stets sehr hilfsbereit. So entstehen oft die lustigsten Situationen und Erlebnisse.

 Würdest du rückblickend einige Dinge anders angehen?

Seit Kurzem habe ich mich einer Lerngruppe angeschlossen. Zu dritt treffen wir uns zwei Mal wöchentlich für zwei Stunden mit einem privaten Türkischlehrer. Die wenigen Stunden, die wir bereits gemeinsam lernten, waren dabei deutlich effektiver als etliche Wochen, in denen ich versucht habe, mir diese Sprache selbst beizubringen. Rückblickend würde ich also sehr viel früher damit beginnen, Hilfe von außen in Anspruch zu nehmen und einen Privatlehrer engagieren, denn die Sprache ist doch ein wichtiger Schlüssel zur erfolgreichen Integration.

Meer in Istanbul

Das Meer hat Sarahs großer Tochter über ihre anfänglichen Bedenken hinweg geholfen.

 

 

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  • Kontakt zu anderen Auswanderern vor Ort knüpfen (z.B. über Foren oder Facebook Gruppen). Die Meisten haben oder hatten mit denselben Hürden zu kämpfen und können daher wertvolle Tipps geben.
  • Berührungsängste abbauen. Auch wenn man sich oft unbeholfen und unwohl fühlt, einfach mal ins kalte Wasser springen und z. B. die Nachbarin auf einen Kaffee hereinbitten, auch wenn kaum eine gemeinsame Kommunikationsebene vorhanden ist. Einen meiner lustigsten Nachmittage hatte ich übrigens beim Kaffee mit 2 Türkinnen und Google Translate.
  • Um Rat fragen. Einheimische wissen, welcher Frisör gut ist, wo man das beste Obst bekommt, welche Preise man mit Taxifahrern aushandeln sollte, an welchen Arzt man sich wenden kann oder warum Ende November die Nachbarn das Dessert „Asure“ verteilen. Der Alltag wirft so viele Fragen und Unsicherheiten auf, das muss man nicht alleine bewerkstelligen. Ein guter Draht zur Nachbarschaft ist daher Gold wert!
  • Die Umgebung beobachten. Jede Kultur hat ihre Eigenheiten. Wer es vermeiden möchte, negativ aufzufallen, sollte sein Umfeld bewusst beobachten und wahrnehmen. Die Gäste helfen der Gastgeberin in der Küche? Mitmachen! Man wünscht seinem Umfeld stets „leichtes Arbeiten“? Schnell die gängigen Floskeln aneignen! Die Mitmenschen werden dies sehr zu schätzen wissen.
  • Sorgen und Nöte der Kinder ernst nehmen. Auch wenn einen selbst in stressigen Zeiten viel umtreibt, so viel Zeit muss sein. Gerade wenn das gewohnte Umfeld aufgegeben wird, wird die Familie zur wichtigsten Basis und Anlaufstelle. Daher: Nicht genervt reagieren, auch wenn dasselbe Thema bereits zum zehnten Mal durchgekaut wird.
  • Vorfreude entfachen. Kinder sind begeisterungsfähig. Sich in der neuen Umgebung wohlzufühlen fällt ihnen leichter, wenn man gemeinsam erkundet, wo es das beste Eis, die nächste Schlittschuhhalle oder den schönsten Strand gibt. Als Erwachsene interessieren uns in erster Linie Infrastruktur, ärztliche Versorgung, etc. Unsere Kinder möchten aber wissen, ob es denn im Spielzeugladen um die Ecke auch die heißgeliebten Loom-Bänder gibt oder sie weiterhin einen Ort mit Basketballkorb finden.[/su_box]

Wir bedanken uns bei Sarah für das tolle Interview. Wenn ihr mehr über ihr Leben in Istanbul wissen wollt, dann schaut doch auf ihrem Blog vorbei!