Ein Leben ohne Sprache? Für uns heute unvorstellbar! Doch wir werden mit dieser Fähigkeit nicht geboren, sondern erlernen sie im Laufe unserer ersten Lebensjahre. Die Eltern der Lehrer, die Stimme das Werkzeug, Erzählungen als Lehrbuch: Im Interview erklärt Sprachwissenschaftler Fabian Bross, wie wir uns die Sprachentwicklung bei Kindern vorstellen dürfen.

Spracherwerb

Die Wissenschaft des Sprechens

Motiviert durch die Freude an der Linguistik, geht Fabian Bross unserer Sprache auf den Grund: Nach seinem Studium erforscht der Sprachwissenschaftler am Institut der Germanistik / Linguistik an der Universität Stuttgart heute Herkunft und Entwicklung des Sprechens. Auf seinem Sprach-Blog bringt er uns die Wissenschaft der Sprache näher. Seine Ergebnisse zeigen: So selbstverständlich und vertraut, wie uns die Interaktion mithilfe von Zeichen und Wörtern heute ist, war sie es nicht immer. Im Interview erklärt er die Hintergründe des Spracherwerbs.

Friedrich II. ging von einer Art Ursprache aus – was sagt die Wissenschaft heute zur Herkunft unserer Sprache?

„Die Idee einer Art angeborenen Ursprache ist auch heute unter uns Sprachwissenschaftlern sehr verbreitet – wenn auch in einer anderen Art und Weise als zu Zeiten großer Herrscher wie Friedrich II.“

Diese versuchten mittels grausamer Isolationsexperimente herauszufinden, wie sich Kinder verständigen, die ohne jeglichen Kontakt zur Sprache aufwachsen. Der Legende nach hätten sie in einer Art Phrygisch oder Hebräisch gesprochen oder wären gestorben.

„Heute vermuten Wissenschaftler auf Basis sprachvergleichender Studien die Existenz einer Art Grundgrammatik, aufgrund von Ähnlichkeiten in der Formation verschiedener Sprachen der Welt. Diese erleichtert Kindern den Spracherwerb aus ihrer Umgebung.“

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Kinder brauchen zu Beginn keine Worte zur Kommunikation – sie entwickeln eine Zeichensprache mit Händen und Füßen.

„Unbestritten ist zumindest das menschliche Bedürfnis nach Interaktion und Kommunikation und somit der Drang eine Art Sprache zu erlernen. Diesen sehen wir auch an gehörlosen Kindern, die ohne Gebärdensprache aufwachsen: Sie entwickeln durch die Beobachtung ihrer Eltern eine Art eigene Gestensprache. Häufig unbemerkt bleibt dabei deren individuelle Minigrammatik ihrer Zeichensprache, an der sie sich orientieren – auch wenn die Eltern unbewusst dagegen verstoßen. Die Sprache ist eben – wie die US-amerikanische Linguistin Goldin-Meadow sie beschrieb – unverwüstlich.“

Wann beginnen Kinder zu sprechen?

„Hier gibt es lediglich Durchschnittswerte – das sollten Eltern immer bedenken. Beim Spracherwerb hat jedes Kind seine eigene Lerngeschwindigkeit. Viele Kinder beginnen mit etwa zwölf Monaten, erste Wörter zu bilden. Meist bestehen diese aus einfachen Konsonant-Vokal-Abfolgen, wie Mama oder Papa. Doch auch wenn ein Kind mit 12 Monaten noch kein Wort spricht, besteht kein Anlass zur Sorge. Studien haben gezeigt, dass Spätzünder während der Entwicklung sehr schnell aufholen.“

Deutsche Sprache, schwere Sprache

„Das Erlernen des Deutschen ist aufgrund der Konsonantenhäufigkeit für Kinder besonders schwierig. Manchmal sprechen wir fünf Konsonanten hintereinander, wie zum Beispiel beim Ausdruck des Herbsts. Diese Zungenbrecher brauchen vor allem am Anfang viel Übung.“

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Zahlreiche Konsonanten, viele Zungenbrecher: Das Erlernen der Deutsche Sprache ist vor allem für Kinder eine große Herausforderung.

Durchlaufen Kinder dabei verschiedene Stadien entlang eines Lernplans?

„Das Wort lernen klingt nach bewusster Anstrengung – um zu betonen, dass die Sprachentwicklung aber wie von alleine und intelligenzunabhängig abläuft, sprechen wir Sprachwissenschaftler lieber von Spracherwerb.“

„Dieser verläuft bei allen Kindern tatsächlich sehr ähnlich: Am Anfang steht der Schrei – oder viele Schreie, denn auch hier gibt es verschiedene Arten. Darauf folgen Gurrlaute und Nasale. Ab circa sechs Monaten beginnen Kinder zu lallen: Sie verbinden dabei Konsonanten und Vokale spielerisch. Erst im Alter von elf Monaten werden die einzelnen Silben zu einer Art Wort verbunden. Aus ma oder ga schöpfen die Kleinen dann Begriffe wie bamaga.“

„Diese ‚Lall-Phase‘ dient als Vorbereitung für das Sprechen richtiger Wörter. Meist beschreiben Kinder zu Beginn vor allem konkrete Dinge mit Substantiven, da diese erstens eine herausragende Rolle in ihrem Leben haben und zweitens den Großteil in unserem Wortschatz einnehmen. Mit circa 18 Monaten sprechen Kinder schon ihre ersten 50 Wörter.“

„Ist diese Grenze überschritten, absolvieren die Sprachschüler einen sogenannten ‚Vokabelspurt‘, bei dem der Wortschatz sich sprunghaft erweitert.“

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Vom Schrei zum Satz: Fabian Bross skizziert einen Lernplan zur Sprachentwicklung.

Zwei Wörter, ein Satz

„Zwischen dem 18. und dem 24. Monat wagen sich die Kleinen schon an die nächste Stufe: Sie reihen die Wörter zu Zweitäußerungen aneinander. Zu Beginn können wir diese jedoch nur aus dem Kontext verstehen. Mama Puppe könnte zum Beispiel eine Aufforderung an die Mama sein, ihrem Sprössling die Puppe zu reichen, oder auch eine Erzählung an den Vater, dass die Mama gerade die Puppe in der Hand hält.“

Die letzte große Hürde: Die Grammatik

„Im Alter von zwei Jahren gelingen den Kindern dann längere Sätze und nochmal etwa zwei Jahre später können sich die Kleinen schon verständlich ausdrücken. Bis zur korrekten Verwendung der Sprache nach unseren Grammatikregeln, müssen sie jedoch noch einmal circa zehn Jahre üben.“

Wie können Eltern ihren Schützlingen beim Sprechen-Lernen helfen?

„Voraussetzung für einen erfolgreichen Spracherwerb ist die Interaktion der Eltern mit dem Kind – auch während der Zeit im Mutterleib. Experimente mit werdenden Müttern zeigen, dass Kinder die Geschichten, die ihnen während der Schwangerschaft vorgelesen wurden, später wiedererkennen.“

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Auch wenn Babys nicht auf das Vorgelesene reagieren: An die Geschichten erinnern sie sich lange.

Ihr plant, eine neue Fremdsprache zu erlernen? Behaltet einfach die von Wissenschaftlern vermutete Grundgrammatik im Hinterkopf, und macht euch das Basis-Fundament durch aktives Zuhören und Nachahmen zu Nutze.

Wir bedanken uns ganz herzlich bei Fabian Bross für das spannende Interview und die interessanten Erkenntnisse zum Spracherwerb.
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